Historyslam

Historyslam: Zeitraffer eines historischen Telegrams in Zeitlupe
von Johannes Lothar Schröder

I. Ein lebendes Bild

geist der zeit war Alexandra Gneissls Beitrag für das 1. Performance Festivals in Schleswig Holstein auf Schloss Salzau. Das Stück mit sieben Personen in historischen Kostümen war für den Ort konzipiert, dauerte 3 h 40 min und wurde parallel zu anderen Veranstaltungen aufgeführt. Wenn man zu einem beliebigen Zeitpunkt in den Raum schaute, sah man sechs Personen in verschiedenen historischen Kostümen. Ihre in extremer Zeitlupe ausgeführten Bewegungen hintergingen die Wahrnehmungsfähigkeit, so dass sich der Eindruck des lebenden Bildes selbst bei längerem Verweilen kaum auflösen konnte. Auch vor dem simultanen Videostream auf dem Monitor in der Halle hätte wahrscheinlich nur ein Beobachter mit einem fotografischen Gedächtnis oder einem kriminalistischen Gespür bei wiederholtem Betrachten den Ablauf der Szene erkannt. Erst die Bearbeitung des Videomitschnitts im Zeitraffer zu einer Fassung von 6 min und 38 sec Länge holte das Geschehen aus dem in der Langsamkeit Verborgenen: Es handelt sich um eine Herrscherfamilie, der eine Botschaft überbracht wird.

II. Geschichte als Konstruktion
Im Vorfeld hatte Alexandra Gneissl recherchiert, dass die Leibeigenen auf Gut Salzau 1795 freie Bauern wurden, nachdem die gesellschaftlichen Umbrüche im Zuge der Französische Revolution auch in Schleswig Holstein wirkten. In der Performance werden sie durch eine Botin repräsentiert, die den Raum betritt, um die Neuigkeit zu verkünden. Nicht mehr und nicht weniger hätten die Zuschauer erfahren, wenn sie über drei Stunden in dem Saal ausgeharrt hätten, in dem die Darsteller in tranceartiger Beharrlichkeit Schwerstarbeit geleistet haben. Doch wer könnte sagen, welche Darstellung den gesellschaftlichen Ereignissen in Schleswig Holstein angemessen wäre, von denen wir im Gegensatz zur Französischen Revolution mit ihren Ikonen keine entsprechenden Überlieferungen haben. Die in Kiel beachteten Künstler dieser Zeit exemplifizierten die Umkehrung von Machtverhältnissen wie Asmus Jakob Carstensen an mythologischen Themen.

Die im Tableau von Gneissl zusammengezogenen historischen Ereignisse zeigen die Beschränktheit des menschlichen Zeitempfindens im Hinblick auf eine sich über Jahre erstreckende komplexe Phase der Geschichte. Die aktuelle Gegenwart und die ästhetisch aufbereitete Vergangenheit führen nicht nur in dieser konkreten Arbeit dem Betrachter zwei parallele Zeitebenen vor Augen, die unterschiedlich beachtet werden. In der Routine des Alltags wird das Fortschreiten der Zeit oft weniger stark wahrgenommen als in der Aufbereitung der äußeren Ereignisse in den Nachrichten, Journalen, Wochenzeitungen und Monatsschriften; dazu gehören auch die ritualisierten Jahresrückblicke. Auf der anderen Seite lässt sich die Vergangenheit durch ästhetische Hilfsmittel als Erzählung oder Abbildung sowie als Film oder Theater abrufen, wodurch ein Mosaik verschiedener Zeiten entsteht, das den Fluss der Zeit unterbricht und durch Versatzstücke aus anderen Gebieten und Zeiträumen ergänzt. Darüber hinaus verlängern Phantasien, Projektionen und Träume die Achsen der Zeiten in die Zukunft

Filmtechnische Möglichkeiten, die vor etwa hundert Jahren die Aufmerksamkeit der Künstler auf das Unsichtbare lenkten, zeigen schlagend, dass Bewegungen, die sich den menschlichen Sinnen entziehen, in eine ihnen zugängliche Dimension überführt werden können. Das gilt nicht allein für die mediale Übertragung von Bildern, sondern wie in diesem konkreten Fall für Zeitlupe und Zeitraffer, deren Wirkung Gneissl einsetzt. Als Performance wird die Szene verlangsamt, während das später bearbeitete Video die gedehnte Zeit wieder in Realzeit zurückführt, die in diesem Falle das Ergebnis einer radikalen Kürzung des Stücks ist, das uns im Zeitraffer lediglich „normal“ erscheint.

In Ritualen (z.B. anlässlich von Feiertagen) und in den Künsten werden zeitliche Vorgänge, sei es aus Natur-, Erd-, Kultur- oder Gesellschaftsgeschichte auf eine Kurz- oder Erzählform reduziert, um in der schier endlosen Menge der Ereignisse Markierungspunkte zu setzen. Deshalb offenbaren Ritual und Künste ausdrücklicher als andere Formen der Überlieferung, dass die Ereignisse der Vergangenheit konstruiert sind, um erinnerbar zu bleiben. Daher benutzt jede Geschichtsschreibung, Kunst und Kunsttheorie sprachliche, bildliche oder theatralische Verfahren um Ereignisse, die über Zeiten und Ort verstreut liegen, in eine geeignete Gegenwart zu überführen, wo sie sinnlich erfassbar und intellektuell nachvollziehbar werden. In diesem Falle ist aus einer inszenierten Zeitlupenversion die filmische Kurzform des Jahres 1895 auf Salzau im Zeitraffer entstanden, die als Historyslam firmieren könnte, weil sie unterschiedliche Zeitabläufe eines Ereignisses exemplifiziert.

III. Zeitlupe und Zeitraffer

Die Performance geist der zeit verfügt über die Möglichkeiten mehrerer Künste zugleich, die des Theaters, des Films und der Malerei. Dabei werden, wie zuvor schon mit den „Tableaux vivants“, die konventionellen Erwartungen in die einzelnen Kunstgattungen nicht vollständig bedient. Diese schieben sich vielmehr ineinander oder werden im Sinne der Avantgarde hintertrieben. So führten die Futuristen Sekundenstücke auf, um das Publikum durch Schlagbilder herauszufordern, die an heutige Poetry-slams erinnern. 60 Jahre nach den serate (Abendveranstaltungen) der Futuristen erlebten wir, dass Robert Wilson mit Slow-Motion-Theaterstücken eine gegenteilige Strategie einschlug, um die Erwartungen des Publikums erneut herauszufordern, bzw. Theaterkonventionen zu dekonstruieren: Deafmans Glance (1970) dauerte 7 und Overture (1972) 24 Stunden. Um schließlich noch die Bereitschaft der diszipliniertesten Zuschauer, sich auf das Äußerste einzulassen, zu brechen. ließ Wilson sich für Guardenia Terrace (1972) 1 Woche Zeit, so dass Abläufe vorgegeben wurden, die in der Folge von Happenings und des formalistischen Theaters kein äußeres Geschehen symbolisch wiederzugaben, sondern die Grenzen zwischen Kunst und Leben verwischten.

Die Zeitlupe ist ein Hilfsmittel, welches das Versagen der sinnlichen Wahrnehmung nutzt, um das Gespinst der Abbildbarkeit von Wirklichkeit zu unterlaufen. Stattdessen bereitet die Zeitlupe die Analyse eines Ereignisses vor, das sich den Sinnen entzieht, wie der Aufprall eines Tropfens. Umgekehrt kann Zeitraffer einen Vorgang wie das Wachstum von Pflanzen derart verdichten, dass er dadurch erst beobachtbar wird. Beide Verfahren können also auch für Stück gelten, die einen komplexen zeitlichen oder historischen Ablauf, der sich über Jahre und verschiedene Orte und Ereignisse erstreckt, anschaulich darstellen.

In seinen Theaterstücken setzte Robert Wilson seit den 1970er Jahren zeitlupenartige Bewegungen ein, deren Wirkung Theodor Shank folgendermaßen zusammenfasste:
Wilson fand heraus, dass sich während der langen Aufführungen die inneren und äußeren audio-visuellen Projektionsebenen der Zuschauer vereinen. Innere und äußere Bilder vermischen sich bis zur Ununterscheidbarkeit. Wilson merkt an, dass es Leute gibt, die auf der Bühne Dinge ’sehen‘, die dort wirklich nicht vorhanden waren.“ (American Alternative Theatre, New York 1982, p. 126)

Das Theater Wilsons spricht die Zuschauer auf einer Ebene individuell an, auf der alle Handlungsfäden reißen und konfrontiert sie mit eigenen Erlebnissen, Assoziationen, Träumen, Fantasien und Erinnerungen, die mit dem äußeren Geschen vermischt werden. In den Stücken wird nicht länger eine kollektive Erfahrung transportiert, sondern der zeitliche Horizont eines jeden Einzelnen wird herausgefordert. Es wird eine Erfahrung hervorgerufen, die mit der philosophischen Behauptung des „Endes der Geschichte“ korrespondiert. Hierdurch wird ein Wechsel im Umgang mit den Materialisierungen von Zeit eingeleitet. So wird Zeit durch Gestaltung als individuelle Erfahrung thematisiert, die im Gegensatz zur Geschichte als Sinnstiftung bürgerlichen Lebens die Interessen bisher marginalisierten Personen und Gruppen verfügbar gemacht.

Mit dieser Perspektive richtet sich der Blick auch auf spätere Projekte von Alexandra Gneissl mit dem Untertitel „commune with“, in denen es um die Frage der Teilhabe (community) in einer Welt unterschiedlicher Zeiten und Zugriffe auf Ressourcen geht.

Ein Kommentar zu »Historyslam«

  1. » Mimikry, Multiplikation und performatives Selbstbild schreibt:

    […] (² vgl. meine Besprechung des Stücks „Geist der Zeit 1795 – 2005“ in diesem Blog: http://www.performance-festival.de/?p=73) […]

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